Starkregen krempelt die Stadt um

Solingen soll künftig besser vor den Folgen von Starkregen geschützt werden. Im Rahmen der generellen Entwässerungsplanung ermitteln die Technischen Betriebe Solingen die Gefahrenpotenziale, bemessen den Oberflächenabfluss und entwickeln Schutzmaßnahmen.

Gemäß den Prognosen des Deutschen Wetterdienstes (DWD) werden Starkregenereignisse und andere Extremwetterereignisse wie Sturm und Hitzeperioden zunehmen. Auch Solingen (Nordrhein-Westfalen) wurde in der Vergangenheit häufiger von Starkregen heimgesucht. Aufgrund der ausgeprägten Topografie kommen hier die Wassermengen auf den Oberflächen schnell zum Abfluss und sammeln sich in den Tieflagen an.

Die Fließwege und Überflutungen stellen bei Starkregen eine Gefährdung der Bürger, der Vermögenswerte (Sach- und Gebäudewerte) und der kommunalen Funktionen (z. B. Rettungswege, Kommunikation dar.

Die Bemessung und Dimensionierung von privaten und kommunalen Entwässerungseinrichtungen erfolgte maßgeblich durch die Koordinierten Starkniederschlags-Regionalisierungsauswertungen (Kostra) des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Die Fortschreibung der Statistik „Kostra 2010“ basiert auf Datenerhebungen der Jahre 1951 bis 2010. Starkregenereignisse mit den Schäden und Gefahren für Städte und Menschen werden in Solingen erst ab der Jahrtausendwende wahrgenommen und registriert.

Bei der Dimensionierung der Kanalisationsanlagen wird von den Berechnungsansätzen und -methoden immer unterstellt, dass alles Regenwasser in die Kanalhaltungen abgeleitet werden können. Dies ist nachweislich nicht so und führt dazu, dass bei hydraulischen Kanalsanierungen auf der Grundlage dieser falschen theoretischen Unterstellungen Kanalquerschnitte kostenträchtig vergrößert werden, ohne den gewünschten Effekt zu erzielen.

Unter dieser Problemstellung wurde gemeinsam von der Bergischen Universität Wuppertal, dem Ingenieurbüro Beck und den Technischen Betrieben Solingen (TBS) ein Forschungsvorhaben initiiert, um die reale Leistungsfähigkeit von Straßeneinläufen (Gully) zu ermitteln.

Aufgrund der thematischen Nähe zur Niederschlagswasserbeseitigung übernehmen in Solingen die Technischen Betriebe als Kanalnetzbetreiber auch die Koordinierung und Konzeption des stadtweiten Überflutungsschutzes. Hierfür stehen aus der generellen Entwässerungsplanung Werkzeuge und Daten zur Verfügung. Ziel ist es, möglichst realistisch Starkregengefahren im Stadtgebiet zu identifizieren und wirksame Schutzmaßnahmen zu entwickeln.

Simulation mit gekoppeltem Abflussmodell

Mit der Zunahme der Überflutungen in den vergangenen Jahren haben die Technischen Betriebe Solingen zunächst für sich festgestellt, dass das Kanalnetz bei Starkregen häufig gar nicht überlastet ist, obwohl es zu Überflutungen an der Oberfläche gekommen ist. Auch die aus der hydrodynamischen Kanalnetzberechnung ermittelten Überstauschächte gaben nur selten die realistischen Verhältnisse im Kanal wieder.

Dieser scheinbare Widerspruch (Überflutung trotz Restkapazität im Kanal) erklärt sich bei näherer Betrachtung der Schnittstellen zwischen Oberfläche und Kanalnetz: Oberflächige Entwässerungssysteme auf Privatgrundstücken oder im öffentlichen Straßenbereich sind bei Starkregen nicht in der Lage, den Abfluss vollständig dem Kanal zuzuführen.

Daher wird seit 2014 in Solingen das Entwässerungsgebiet mit den gekoppelten Abflussmodellen simuliert. Bei dieser gekoppelten Kanalnetzberechnung werden die tatsächlichen Oberflächen mit ihren hydrologischen Eigenschaften beregnet. Hieraus ergeben sich zusätzlich Abflüsse an der Oberfläche, die während des gesamten Simulationsvorgangs bis zum Austritt aus dem Entwässerungsgebiet vollständig dargestellt werden.

Aufgrund der bei Starkregen begrenzten Zulaufmöglichkeit findet ein Großteil des Abflusses nicht im Kanalnetz, sondern auf den Oberflächen statt. Infolgedessen besitzt das Kanalnetz oftmals auch bei Starkregen oberhalb der Bemessungsansätze Kapazitätsreserven, die genutzt werden könnten. Die Überflutungssimulation mit Berücksichtigung der Komponenten Kanalnetz, Topografie, Gebäude, Bodenkennwerte und Regenereignis ist für eine gesamtstädtische Simulation noch zu komplex, sodass in Solingen die 24 einzelnen Einzugsgebiete in den nächsten Jahren berechnet werden.

Karten zeigen die gefährdeten Flächen auf

Die erste Karte zur Fließwegakkumulation in Solingen lag 2014 vor. Diese rein topografische Analyse von möglichen Fließwegen bei Starkregen bietet stadtweit eine erste Einschätzung der überflutungsgefährdeten Geländesenken und der Fließwege. Mit dieser Karte werden in Solingen seitdem beispielweise Neubaumaßnahmen hinsichtlich der Überflutungsgefährdung bewertet.

Ergänzend liegt seit 2015 eine Starkregeneinsatzkarte vor, die jährlich aktualisiert wird. Hierin werden die von der Feuerwehr und vom Kanalbetriebshof gemeldeten Einsätze im Zusammenhang mit Starkregen grafisch im Stadtplan dargestellt.

Aufbauend auf der Fließwegkarte wurde Anfang 2016 eine Gefährdungskarte entwickelt, die neben der Akkumulation von Flächen weitere topografische Parameter berücksichtigt.

Seit Sommer 2016 sammeln die Technischen Betriebe Solingen Bilder von Überflutungen, um die Überflutungsanalysen und -simulationen abzugleichen. Hierzu wurde eine E-Mailadresse (starkregen@solingen.de) eingerichtet, an die Bilder von Überflutungen gesendet werden können.

Risikopotenzial ermitteln

Gemeinsam mit der Stadt erarbeiten die Technischen Betriebe Solingen derzeit das Risikopotenzial der kommunalen Infrastruktur, der Vermögenswerte und der kommunalen Funktionen. Im GIS-Analyseverfahren wird den kommunalen Objekten eine Gefährdungsklasse aus der Gefährdungspotenzialkarte zugewiesen. Mit den jeweiligen Fachbereichen der Stadt wurde die Sensibilität (Vulnerabilität) der einzelnen Objekte Schadenspotentialklassen eingeteilt.

Die Überlagerung der Gefährdungspotenzialklassen und der Schadenspotenzialklasse führt mit einer entsprechenden Bewertungsmatrix zu einem Risikopotential der einzelnen kommunalen Objekte.

Nach dem Beschluss des Solinger Verwaltungsvorstandes zur Veröffentlichung der Gefährdungskarte wird aktuell eine Homepage aufgebaut, in der über die Starkregengefahren und über Objektschutzmaßnahmen informiert und Beratung angeboten wird. Darin wird anwenderfreundlich die Gefährdungspotenzialkarte veröffentlicht und mit dem Regenradar des Deutschen Wetterdienstes (DWD) überlagert.

Diese Karte sowie das Informations- und Beratungsangebot bieten dem Bürger die Möglichkeit, sich mit dem Thema zu beschäftigen und die exponierte Lage seines Grundstücks einzuschätzen. Dies ist Voraussetzung dafür, dass der Bürger, wie im Wasserhaushaltsgesetz gefordert, Eigenvorsorge betreiben kann.

Parallel zum Aufbau der Homepage entwickelt Solingen derzeit auf Grundlage der Gefahrenkarte und der DWD-Regendaten eine Starkregenwarn-App, um seine Bürger vor Überflutungsgefahren zu warnen. Durch sogenannte Push-Nachrichten auf das Handy wird der Bürger frühzeitig vor Starkregen im Stadtbereich gewarnt. Kurz vor dem Starkregenereignis wird konkret auf die exponierte Lage seines Grundstücks hingewiesen.

Vorbeugender und konzeptioneller Überflutungsschutz

Zum konkreten Schutz vor Überflutungen sind Maßnahmen notwendig, die Abflussbildung verhindern (vorbeugender Überflutungsschutz) oder Abflüsse schadlos umleiten oder in geeigneten Flächen zurückhalten (konzeptioneller Überflutungsschutz).

Im Rahmen des vorbeugenden Überflutungsschutzes können beispielsweise bei Neubaumaßnahmen Vorgaben zur Entsiegelung (Dachbegrünung) sowie zur Regenwassernutzung gemacht werden. Ortsnahe Versickerung oder Einleitung von Niederschlagswasser in Gewässer sind Optionen.

Nicht vermeidbarer Abfluss aus Neubaugebieten ist möglichst gedrosselt (Retentionsflächen) und beispielsweise durch offene Regenwasserführung zeitlich verzögert abzuleiten, um bei Starkregen den umgebenden Siedlungsbereich nicht zusätzlich zu belasten.

Für die Finanzierung von Überflutungsschutzmaßnahmen ist die Novellierung des nordrhein-westfälischen Landeswassergesetzes (LWG NRW 2016) mit der Festlegung der Gebührenfinanzierung von Überflutungsschutzmaßnahmen in Paragraf 54 ein wichtiger Schritt.

Der Abfluss im Gewässer bei starken Regenereignissen wird nicht vom Abfluss aus dem Kanalnetz, sondern aus den Oberflächenabflüssen dominiert. Zu dieser Erkenntnis können auch Nichtexperten durch die Abflussvisualisierung der topografischen Analyse gelangen.

Die hydraulischen Verhältnisse im Gewässer aus Regenereignissen jenseits der 20-jährigen Wiederkehrzeit (Tn = 20 a) sind also vom Netzbetreiber nur noch im geringen Umfang durch Maßnahmen zu beeinflussen. Anders ausgedrückt: Rückhaltemaßnahmen am Ende eines Kanalnetzes, an der Einleitung ins Gewässer können nur den deutlich geringeren Abflussanteil beeinflussen.

Oberflächenabfluss berechnen

In den niedrigeren Wiederkehrzeiten (Tn = 1–10a) liegt der Abfluss aus dem Siedlungsraum aus den befestigten Flächen deutlich über den potenziell natürlichen Abflüssen. Hier ist ein ökologischer Ausgleich der Wasserführung durch Regenrückhaltbecken sinnvoll. Der weitaus größte Teil (ca. 95 %) der Jahresniederschläge liegt deutlich unter den Bemessungsgrenzen für die Kanalisation und ist damit für eine ökologische Betrachtung relevant.

Bei den seltenen, aber immer öfter auftretenden Starkniederschlägen (> Tn = 20a) steht nicht die Ökologie im Vordergrund, sondern der Schutz von Mensch und Infrastruktur. Hier kann der Netzbetreiber mit dem Kanalnetz nur einen begrenzten Beitrag leisten.

Zur Abschätzung, bis zu welcher Starkregenhäufigkeit das Kanalnetz noch schützend wirkt, ist eine zweidimensionale Oberflächenabflussberechnung erforderlich. Koppelt man diese mit einem Kanalnetzberechnungsmodell für die kanalisierten Baugebiete an der Peripherie, kann man hiermit zum Beispiel auch die Gewässerhydraulik berechnen, die Wirksamkeit geplanter und gebauter Rückhaltemaßnahmen nachweisen, mögliche Hochwassergefahren erkennen oder auch Schutzmaßnamen planen und deren Wirksamkeit nachweisen.

Auf der Grundlage all dieser Daten sind die Technischen Betriebe Solingen nun in der Lage, die wirkliche Abflussmenge einer Kanalhaltung zu bestimmen und zu überprüfen, unter welchem Aufwand und Konsequenz eine Nutzung festgestellter Leistungsfreiräume möglich ist.

Darüber hinaus wurde erkannt, dass es viel wirtschaftlicher ist, bei Starkregen anfallendes Oberflächenwasser nicht bis in den topografischen Tiefpunkt fließen zu lassen, sondern vorher schad- und gefahrlos in Grünflächen oder Gewässer abzuleiten. Hierzu ist es sinnvoll, in den entsprechenden Bereichen den Straßenkörper der neuen Situation baulich anzupassen.

Manfred Müller

Der Autor
Manfred Müller ist Teilbetriebsleiter der Technischen Betrieben Solingen