Heute für die Zukunft entscheiden

Die Integration von Migranten, die Schaffung von Wohnraum oder auch die Bildung betreffen als Aufgaben des Gemeinwesens wesentlich die Städte und Gemeinden. Wenige Monate vor den Kommunalwahlen in mehreren Ländern beleuchten wir diese Herausforderungen am Beispiel von Baden-Württemberg.

Baden-Württemberg ist ein wohlhabendes Land. Davon profitieren auch Gemeinden und Kreise. Zwar hat sich in der zu Ende gehenden kommualpolitischen Amtsperiode einiges geändert, vor allem durch das Flüchtlingsproblem, doch die Kooperation von Staat und Gemeinden funktionierte. Die schwierigste Aufgabe ist nach wie vor die Integration der Zuwanderer. Auch das ist letztlich eine kommunale Aufgabe. Deutschland ist hier durchaus mustergültig.

Bereits die Herausforderung der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert zeigte das kommunale Leistungsvermögen: Städte taten sich zusammen, um die infrastrukturellen Probleme gemeinsam anzugehen. Damals entstanden kommunale Verbände wie Ruhrtalsperrenverband (Wasserversorgung) und Emschergenossenschaft (Schmutzwasserentsorgung). Der Ruhrsiedlungsverband diente der großräumigen Raumplanung. Für ausreichenden Wohnraum sorgten die Städte mit der Gründung von kommunalen Wohnbaugesellschaften.

Einen großen historischen Einschnitt stellt das Kriegsende 1945 dar mit seinen gewaltigen Zerstörungen wie auch mit dem Zuzug von Flüchtlingen. Sieht man heute Bilder aus Syrien, kommt das der älteren Generation bekannt vor. Denn so sahen auch hier vielfach die Städte aus, doch in erstaunlich kurzer Zeit war nahezu alles wieder hergerichtet. Qualifizierte Arbeiter, tüchtige Bürgermeister, gut eingespielte Verwaltungen hatten Krieg und Drittes Reich weitgehend überstanden. Im kommunalen Alltag spielten Paragrafen kaum eine Rolle: Man packte an.

Noch bis zum heutigen Tag richten Bürgermeister sich an den Mustern von damals aus. Es war die Heroenzeit der Kommunalpolitik, die beispielgebend geblieben ist. Hinzu kommt eine funktionierende Zivilgesellschaft mit leistungsfähigem Vereinswesen, mit freiwilliger Feuerwehr, mit Bürgerengagement. Auf sie ist Verlass.

Was die Menschen heute vor allem vermissen, ist bezahlbarer Wohnraum. So ist Wohnungspolitik im allgemeinen Verständnis eine Kernaufgabe der Kommunalpolitik. Fatal wirkte sich allerdings bis in unsere Gegenwart eine falsche Politik aus, als zum Beispiel Wohnungen aus Landes- oder Kommunalbesitz verkauft wurden, um öffentliche Schulden zu minimieren. Auf diese Weise wurde dem Bund, den Ländern und Städten eine erfolgreiche Wohnungspolitik aus der Hand geschlagen.

Öffentlich Bediensteten konnte in der Folge der Zuzug in die Landeshauptstadt kaum noch zugemutet werden. Gerade geringer Verdienende sind die Leidtragenden. Wer draußen auf dem Land nur mit Mühe eine Wohnung gefunden hat und bislang mit seinem alten Diesel an den Arbeitsplatz gelangen kann, ist arm dran, im wörtlichen Sinne. Das musste zum Beispiel eine Krankenschwester erfahren: Ihr Arbeitgeber, ein Krankenhaus, gab ihr einen Mietkostenzuschuss, das Finanzamt hielt das aber für einen geldwerten Vorteil, der zu versteuern ist!

Sachpolitik im Rathaus

Natürlich gibt es um den Wohnungsbau Konflikte. Die ständig steigenden Mieten, die der Markt in den Ballungsgebieten hergibt, sind ja eigentlich nur ein Indikator für die Attraktivität von Gemeinden und Verdichtungsräumen. Nicht alle Menschen, die das wollen, können in der attraktiven Altstadt von Freiburg leben.

Bemerkbar macht sich hier auch ein Gesellschaftswandel mit höheren Ansprüchen an Größe und Ausstattung von Wohnungen. Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte steigt und damit auch ihr Anspruch auf qualitativ hochwertiges Wohnen. Auf der anderen Seite wollen wir den Schutz unserer Natur gewahrt wissen und lehnen die Zubetonierung unserer freien Landschaft ab.

Was also tun? Gegenwärtig kommen die kommunalen Bauträger, Planer, Handwerker mit dem Bauen nicht nach. Bereitliegende Gelder können vielfach nicht abgerufen werden. Wir haben also noch Luft, um uns etwas einfallen zu lassen. In den baden-württembergischen Rathäusern sitzen gute Leute, die sachorientiert handeln und parteipolitische Spielchen zumeist meiden. Das ist in Deutschland nicht überall so.

Viele Gemeinden sind vom Fahrverbot für Diesel in den Innenstädten betroffen. Dazu gehören Stuttgart und Reutlingen. Der Bund hilft im Kampf gegen die Luftverschmutzung mit 1,5 Milliarden Euro. Dafür können zum Beispiel Elektrobusse für den Öffentlichen Personennahverkehr gekauft werden („Sofortprogramm Saubere Luft“). Ohne diese Hilfe würde nicht nur der Verkehr, sondern die gesamte Wirtschaft in einer Großstadt wie Essen (Nordrhein-Westfalen) zusammenbrechen. Auch diese Gelder werden von Gemeinden ausgegeben – wer könnte es denn sonst tun?

Die Hilfsmöglichkeiten des Bundes sind jedoch begrenzt, denn von Verfassungswegen ist ihm bislang verboten, sich in die Kompetenzen, in die Aufgabenerledigung von Ländern und Gemeinden einzumischen. Dieses Verbot gilt für Bildungseinrichtungen, insbesondere für Schulbauten und die Anschaffung teurer Hardware für einen zukunftsweisenden Unterricht. Bislang ist strittig, ob der Bund den Gemeinden hier unter die Arme greifen darf. Dafür stehen im Zuge eines „Digitalpaktes“ rund fünf Milliarden Euro zur Verfügung. Eine gleich hohe Summe bietet der Bund für den sozialen Wohnungsbau. Für die Finanzierung von Gemeindeverkehrswegen will der Bund eine weitere Milliarde bieten.

Doch das bedeutet: mehr Geld für mehr Mitsprache. Oder andersherum: Der Bund nutzt das Prinzip der Goldenen Zügel. Doch die Bundesrepublik Deutschland ist ein föderaler Staat. Das Grundgesetz (Art. 79,3) legt die Hürde zum Schutz des Föderalismus sehr hoch. Jeder Eingriff bedarf einer Verfassungsänderung. Die im Fokus stehenden Eingriffe im Bereich von Schule und Hochschule berühren den Kern des Föderalismus.

Finanzverfassung überdenken

Hinzu kommt, dass der Bund verlangt, dass auch die Länder noch einen Anteil dazulegen müssen, wenn sie Geld aus der Bundeskasse wollen. Damit werde der Föderalismus ausgehebelt, warnt vor allem Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann. Es ist ihm gelungen, alle Ministerpräsidenten hinter sich zu versammeln. Das ist eine beachtliche Leistung für den Föderalismus.

Vor Ort kann man genauer einschätzen, woran es fehlt, wo Mittel für welchen Zweck am sinnvollsten eingesetzt werden können. Deshalb sollte doch eher die Finanzverfassung der Bundesrepublik im föderalistischen Sinne neu gestaltet werden, also mit einem größeren Anteil der Länder am Steuerkuchen.

Auch das Bundesverfassungsgericht sieht das so: Die Finanzausstattung darf den Föderalismus nicht aushöhlen. Und das Verfassungsgericht begründet: „Der Bürger muss wissen können, wen er wofür – auch durch Vergabe oder Entzug seiner Wählerstimme – verantwortlich machen kann.“ Die Ländervielfalt erhöht die Fehlertoleranz. Nicht alle sollen denselben Fehler machen. Aus den Fehlern der anderen lässt sich vielmehr lernen. So das Credo.

Innerhalb der Landespolitik von Baden-Württemberg sind Grüne und CDU gegen die Verfassungsänderung, SPD und FDP dafür. Dahinter steckt der Grundsatzstreit, welche Staatsverfassung die sinnvollere, leistungsfähigere ist. Das Testfeld liegt in Baden-Württemberg vor der Haustür: das zentralistische Frankreich oder die föderalistische Schweiz.

Hans-Georg Wehling

Der Autor
Prof. Dr. Hans-Georg Wehling ist Politikwissenschaftler an der Universität Tübingen