Die lebendige Stadt ist nicht stumm

Betriebsamkeit und auch ein gewisser Lärmpegel kennzeichnen ein gesundes Stadtleben. Sowohl auf Verkehrs- als auch auf Gewerbelärm muss planerisch reagiert werden. Dies geschieht im Baubereich zum Beispiel durch die Gebäudestellung. Auf dem Weg in einer leisere Zukunft sind pragmatische Maßnahmen aufzuzeigen.

Walter Ruttmann feierte 1927 die Faszination Berlins in den 20er-Jahren mit dem Experimentalfilm „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“. Die Dynamik des industriellen Aufschwungs wird in kurzen Filmschnitten dargestellt, vor allen Dingen aber durch – heute würden wir sagen – Verkehrslärm und Gewerbelärm: Dampfloks durchfahren innerstädtische Wohngebiete und stampfende Maschinen rhythmisieren das Großstadtleben. Gefühlt ist die Stadt seither immer leiser geworden, unsere Regelwerke und Betroffenheit gegenüber Lärm allerdings immer größer. Aus gesundheitlichen Gründen zu Recht – mit Blick auf eine lösungsorientierte Stadtentwicklungs- und Städtebaupolitik teilweise zu Unrecht.

Vom italienischen all’arme („Zu den Waffen!“) abstammend, ist Lärm heute meist ein problematischer und emotional negativ aufgeladener Begriff. Für die Umweltmedizin bedeutet Lärm eine gesundheitsschädigende Immissionsart. Über die Hälfte der Bevölkerung fühlt sich durch Lärm beeinträchtigt, wobei der Straßenverkehrslärm an erster Stelle steht. Lärm kann Sprache und Kommunikation beeinträchtigen, zu Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Unlustgefühl und Aggressionen führen sowie die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit reduzieren. Das Ausmaß der Gesundheitsschädigung hängt sowohl von der Höhe des Pegels als auch von der Einwirkungsdauer ab. Bereits der an Hauptverkehrsstraßen übliche Lärm kann auf Dauer zu Bluthochdruck und Herz-Kreislauferkrankungen führen.

Die Immissionsrichtwerte der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) sind ein rechtliches Instrument zur Objektivierung von Lärmobergrenzen. Dabei wird zum einen zwischen Tages- und Nachtzeiten (6 bis 22 Uhr bzw. 22 bis 6 Uhr) unterschieden. Zum anderen werden für verschiedene Nutzungsgebiete entsprechend der Baunutzungsverordnung verschiedene Grenzwerte festgelegt. Die gesundheitsschädigende Wirkung von Lärm ist in Planungs- und Genehmigungsprozessen nicht „wegwägbar“. Textliche Festsetzungen in Bebauungsplänen oder Klauseln in Verträgen, die Lärmgrenzen durch Akzeptanzregelungen erhöhen würden, wären rechtsfehlerhaft.

Abkehr von der autogerechten Stadt

Sowohl auf Verkehrs- als auch auf Gewerbelärm muss also planerisch reagiert werden. Dies geschieht durch Gebäudestellung, lärmabgewandte Gebäudeseiten, Hofbildungen oder Zonierung von Nutzungen gegenüber den lautest zulässigen Industriegebieten.

Sieht man sich die Lärmkarten deutscher Städte an, so ist es kein Wunder, dass die autogerechte Großstadt Hannover auch die potenziell lauteste ist. Das ohrenbetäubende „Wunder von Hannover“ Rudolf Hillebrechts, mit seinen kreuzungsfrei durch die Stadt geführten Schnellwegen steht der heute angesagten verkehrsberuhigten „Stadt für Menschen“ Jan Gehls gegenüber.

Dabei ist das Vorkommen einer gewissen, an die Zeiten der Stadt angepassten Lautstärke auch Zeichen und konstitutives Element eines gesunden und intakten Stadtlebens. So lange Lärm nicht gesundheitsschädigend ist, sollte er auch als Begleiterscheinung des sozialen Miteinanders und kulturellen Lebens gesehen werden. Moderate Lautstärke muss hinnehmbar sein, damit Stadt funktionieren kann.

Dies betrifft vor allem diejenigen Schallemissionen, die von sozialen Aktivitäten ausgehen. So regelt das Bundesimmissionsschutzgesetz, dass Geräuscheinwirkungen, die von Kindertageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und ähnlichen Einrichtungen durch Kinder hervorgerufen werden, im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung darstellen. Immissionsgrenz- und -richtwerte dürfen bei der Beurteilung der Geräuscheinwirkungen auch nicht herangezogen werden. Geräusche spielender Kinder sind also auch für diejenigen, die sich daran stören, zumutbar.

Perspektiven der leisen Stadt

Wie werden sich aber Städte entwickeln? Sind angesichts einer tendenziell leiser werdenden Stadt restriktive Auflagen, die Mischung und Mobilität konditionieren, noch zeitgemäß? Der Einfluss einer geschwindigkeitsreduzierten Elektromobilität auf den Straßenverkehrslärm ist positiv. Zwar können Elektroautos nicht pauschal als leise bezeichnet werden, aber grundsätzlich ist das Antriebsgeräusch geringer als bei einem Verbrennungsmotor. Dieser Effekt ist bei niedrigen Geschwindigkeiten deutlich nachweisbar. Bei steigender Geschwindigkeit nehmen die Abrollgeräusche der Reifen auf der Fahrbahn zu, und bei höheren Geschwindigkeiten ist der Verkehrslärm dann vergleichbar mit herkömmlichen Pkws.

Vielversprechend sind Elektrobusse, die vornehmlich innerorts unterwegs sind, häufig anfahren und wieder abbremsen und selten höhere Geschwindigkeiten erreichen. Auch ein zunehmender Umweltverbund mit hohen Anteilen von Fußgängern und Radfahrern macht die Stadt leiser.

Im Bereich des Gewerbelärms wird sich in allen Bereichen – Handwerk, Gewerbe und Industrie – die Entwicklung zur geräuschminimierten Industrie 4.0 fortsetzen. Stahlwerke, bei denen mit großen Hämmern auf Metall geschlagen wird, gehören schon lange der Vergangenheit an. Wir können uns wieder mehr auf die gemischte Stadt einlassen und müssen das auch deutlich nach außen kommunizieren. Dies ist die Absicht des sogenannten Stuttgarter Konsens, bei dem Planungspraktiker eine Vorzeichenänderung bei der Baunutzungsverordnung fordern, von restriktiven zu lösungsorientierten Regelungen was Mischung und lebendige Nachbarschaften betrifft.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, im Bereich der Baukultur auf Lärm zu reagieren. Entstehen neue Lärmquellen, können aktive Schallschutzmaßnahmen auf der Ebene von Architektur und Städtebau helfen. Dazu zählen im Verkehrsbereich gut gestaltete Einhausungen, Galerien oder Tunnel. Lärmintensive Nutzungen in Industrie- und Gewerbestandorten können durch bestimmte Gebäudestellungen (U-förmige Bauten, Kapselungen, Nutzung lärmabgewandter Seiten) abgemildert werden.

Dass wir einen gegebenen Lärmzustand nicht auf Dauer in Beton gießen sollten, beweisen Bauwerke wie die Byker Wall in Newcastle oder am Berliner Mehringplatz, ursprünglich als geschlossene Riegel für städtebaulichen Lärmschutz vor Autobahnen konzipiert, die nie gebaut wurden. Auch über die Reversibilität von Lärmschutzbebauungen in einer leiseren Zukunft sollten wir heute schon nachdenken, zum Beispiel entlang von Schienen oder stark befahrenen Straßen.

Bis dahin gilt es pragmatische Wege aufzuzeigen, zu denen auch das Hamburger Hafencity-Fenster gehört. Als öffenbares Kippfenster mit einer lärmabsorbierenden Fensterlaibung ermöglicht es einen kontrollierten Innenraumpegel und hierdurch Mischnutzung mit Wohnen im Entwicklungsgebiet der Hafencity. Im vergleichbaren Fall ist 20 Jahre zuvor die Hamburger City-Süd zur reinen Bürostadt geworden. Entscheidend auf diesem Weg ist die Haltung aller Beteiligten, Lärm – sofern nicht gesundheitsschädigend – als notwendige Lautstärke des städtischen Lebens zu bewerten und zu regeln. Letztlich gilt auch heute noch: Der Lärm, der einen stört und der nicht durch lebendige Baukultur selbstverständliche Ursachen hat, wird als doppelt so laut empfunden.

Reiner Nagel

Der Autor
Reiner Nagel ist Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur in Potsdam